Meine Lieben,
es ist so verdammt lange her, dass ich auf k1von3.de etwas geschrieben habe – überhaupt alles ist so lange her.
Schon vor 5 Jahren habe ich versucht in Worte zu fassen, was mich bewegt (hat).
Heute – ganze zehn Jahre nachdem meine Mutter ihrem Krebsleiden erlegen ist, nehme ich euch wieder mit auf eine Reise der Erinnerung.
Zehn unfassbare Jahre. Zehn Jahre gefüllt mit Selbstzweifeln, persönlichen Entbehrungen – vor allem aber mit Verlust.
Nach zehn Jahren sehe ich heute längst nicht mehr „nur“ den Verlust meiner Mutter – von der natürlich auch ich weiß, dass sie mit Nichten dem heroischen Bild entsprach, welches ich im Zuge meiner Trauer zu zeichnen versucht habe.
Ich sehe meinen ganz eigenen Verlust – eben von mir selbst, der Person, die ich davor gewesen bin.
Ich sehe den Verlust von Freunden und generell Menschen, die mir einmal sehr nahe gestanden haben – wie meine beste Freundin, meine Schwester oder die Freunde meiner Mutter, die mich mein ganzes Leben lang kannten.
Bei den meisten davon scheint mit meiner Mutter der Grund gestorben zu sein, mich zu „mögen“ – oder ich war vorher auch schon immer einfach nur dabei.
Bei meiner besten Freundin bleibt es meine durch meine Trauer getrübte Sicht auf das große Ganze und die dadurch mangelhafte Fähigkeit, einmal über den Tellerrand hinaus zu sehen. Da habe ich dann irgendwann einfach nicht mehr geantwortet und mich in meinen Worten einfach verpisst. – eine Tatsache, die mir auch heute noch von Herzen – und das aufrichtig – Leid tut. Damals konnte ich mich schlichtweg nicht anders verhalten – und selbst wenn das nach einer billigen Ausrede klingt, bleibt es am Ende die ungeschönte Wahrheit.
Und dann ist da meine Schwester – die ältere, die meinen Schmerz einfach nie gesehen hat. Die in dem Verlust unserer Mutter nur ihr Erbe – und in mir das hinterlassene Portemonnaie gesehen hat, welches über mich einfach die altbekannte Aufgabe übernehmen sollte: bezahlen.
Das zu ertragen hat lange gedauert. Ich muss und musste regelrecht wieder lernen, mich selbst zu sehen und am Ende auch zu mögen. Ich musste begreifen, dass nur meine Mutter gestorben ist – nicht aber ich, auch wenn es sich sehr oft genauso angefühlt hat.
Ich bin immer noch da.
Mein Bruder, der Sohn meiner Mutter, der als Baby zur Adoption freigegeben wurde und 20 Jahre älter ist als ich, hat mir einmal prophezeit, dass ich ohne meine Mutter nicht lebensfähig sei.
Und Uwe weißt Du was? Das habe ich auch gedacht.
Während mein Leben damals stets durch die Launen und Erkrankung meiner Mutter geprägt war, gab es dieses „ich“ genau genommen gar nicht.
In den letzten zehn Jahren musste ich neu laufen lernen, lieben, vertrauen oder eben einfach Ich zu sein. Und wenn man selbst gar nicht weiß, was dieses ich eigentlich ist, stellt einen jede Entscheidung, jede Erinnerung und auch jeder ganz eigene Verlust immer wieder vor eine neue Herausforderung.
In den letzten zwanzig Jahren habe ich immer wieder über meine vermeintlichen Dämonen geschrieben und dabei zu begreifen versucht, wofür ich einfach nicht alt und erfahren genug war.
Lernt man sich selbst dann das erste Mal ungeschönt und nackt kennen, kommen zwangsläufig zu jedem Zweifel und jeder Erinnerung auch Erkenntnisse. Und auch genau solche die verdammt weh tun, weil sie eine Wahrheit zeigen, vor der man sich sein halbes Leben erfolgreich verschlossen hat.
Und ja – ich war schon ein depressives Kind. Ich war damit immer zu viel. Und: oft bin ich niemandem etwas wert gewesen.
Genau das – so weiß ich heute – bleibt die Wurzel von allem.
Immer wollte ich jemand anderes sein – es wert sein, gemocht oder sogar geliebt zu werden. Was mir in meiner Familie gefehlt hat, habe ich über erfundene Geschichten und Lügen bei meinen „Freunden“ zu bekommen versucht. Und der Grund, dass ich heute mit niemandem von früher mehr Kontakt habe ist, dass mich all meine Lügen eingeholt und Menschen sich letzten Endes auch deshalb von mir entfernt haben. Wer könnte es ihnen verdenken.
All diesen Wegbegleitern würde ich gerne sagen, wie Leid es mir tut – und als wie falsch ich mein Verhalten heute empfinde. Ich würde gerne sagen, wie ehrlich im Gegensatz zu allem meine Gefühle gewesen sind.
Aber heute lebe ich damit und mache es besser. Zwar muss ich mich niemandem beweisen – aber ich würde es gerne und so Chancen nutzen, die ich niemals hatte.
Denn in der echten Welt gibt es solche Chancen leider nicht – aber das ist okay.
Was hat das nun mit den zehn Jahren zu tun?
Tja, auch das obige war eine Erkenntnis, die ich nur wegen meinem Verlust habe kriegen können.
Was mich lange hat traurig sein lassen bleibt die Gewissheit, dass meine Mutter und ich nur so wenig Zeit gehabt haben es besser zu machen. Denn hier gab es diese seltene und ominöse Chance – und unsere letzten 1,5 Jahre waren einfach nur schön.
Darum erschien mir lange Zeit alles was vorher war als so unwichtig. Ich war einfach dankbar – und bin das auch heute noch.
Mein ganzes bewusstes Leben habe ich damit zugebracht um eine Familie zu kämpfen, die es einfach nie gegeben hat – und ich wünschte, dass ich vieles bereits als Kind gewusst hätte. Das hätte mir viel Schmerz, viele Lügen und vor allem viele falsche Entscheidungen abgenommen.
Und noch immer bin ich da.
Ich bin verheiratet – seit zehn Jahren in dieser wegweisenden und überlebensschuldigen Beziehung mit einem Menschen, der all mein Schwarz gesehen hat – und heute trotzdem noch die graue Farbe gemeinsam mit mir anmischt.
Wenn ich über die letzten zehn Jahre spreche oder schreibe, kommt meine Partnerschaft dabei oft zu kurz – und das bedauere ich sehr, schließlich bleibt sie das Skelett meines Lebens.
In diesem Leben wird mir meine Mutter immer fehlen und auch zehn Jahre später tut es noch ganz genauso weh, dass unser letztes Gespräch so unbeschreiblich lange her ist.
Ja. Da waren noch so viele Fragen und so viele Situationen, die ohne Dich so schrecklich einsam waren. Ich vermisse uns – Dich und mich aus dieser wundervollen, nur leider viel zu kurzen Zeit.
Ich hatte Dir versprochen, dass ich nicht aufgebe – und Gott verdammt, das Aufgeben war schon so oft – so. Viel. Leichter.
Aber ich bin immer noch hier.
Deinetwegen. Meinetwegen. Für uns.