Die vergangenen fünf Jahre waren eine Menge. Oft war ich traurig und einsam. Über allem stand und steht auch heute, mein ganz eigener Verlust, der mich immer wieder vor eine Herausforderung stellt.
An diesem Tage gedenke ich meiner Mama, die genau heute vor fünf Jahren gestorben ist, aber auch mir und all den Menschen, die mich oder uns direkt oder indirekt begleitet haben.
Ich kann mich noch gut an all die wertvollen Ratschläge erinnern, die mir die Menschen gegeben haben, als mich mein Verlust bestimmte. Noch viel besser aber erinnere ich mich an meine Mutter, die – über all dem erhaben – eben meine Mama war, die an mich geglaubt hat und stolz auf mich war.
Viele Menschen bilden sich ein Mitsprache-Recht ein, welches sie einfach nicht besitzen. Sie glauben, ihre Meinung zu meiner Situation wäre wichtig, dabei gibt es kaum etwas unnötigeres als diese. Sie erlauben sich ein Urteil – in erster Linie über mich, aber auch über meine Mama, der sie sich aufgrund einer Freundschaft, manchmal nur ferner Bekanntschaft, verbunden fühlten.
Manch einer war sogar mit mir verwandt, glaubte meine Mutter besser zu kennen als ich und mir daher sagen zu dürfen, was sie gedacht, gewollt, geglaubt – ja sogar gefühlt hat.
Viele sahen in meiner Erbschaft nur das Geld und bewerteten dieses einzig und allein als eben die „Hinterlassenschaft“ meiner Mutter, stets mit der Bemerkung, ich würde ja „nie wieder etwas erben“, müsse daher gut „aufpassen“.
Sie erlaubten sich ein Urteil, darüber, wie „richtig“ oder „falsch“ ich mit diesem Geld umgegangen bin und verurteilten anschließend auch mich, meine Persönlichkeit und eben einfach die Kira, die ich nun einmal bin.
Ich habe erkannt und das schon an Tag 1, dass kein Geld mir jemals den Menschen wiedergeben können wird, den mir das Leben genommen hat.
Doch ich muss zugeben, auch ich habe einmal geglaubt, dass materielle Dinge einem das Leben „erleichtern“. Ich dachte, dann „hat man wenigstens das oder das“. Aber ich erkannte eben, dass das alles wertlos ist.
Was wirklich zählt ist die Familie, die jeder für sich alleine definiert. Für mich war Familie einhergehend mit meiner Mama. Wir waren ein Team und immer da für den anderen.
Es gab sogar Menschen, die mir meine Verfehlungen vorgehalten haben – die womöglich jeder Mensch in seinem Leben „begeht“, der eine eben mehr und der andere weniger.
Und ich sage: ihr alle habt Recht, denn ich war noch ein Kind und mir nicht über die Tragweite meines Handelns bewusst. Aber ich möchte mich nicht damit „rausreden“, dass ich es einfach nicht „besser“ gewusst habe. Ich möchte euch mitnehmen, auf eine Reise der Erinnerung:
Mit 13 Jahren erlebte ich die endgültige Krebs-Diagnose meiner Mama; und das war zu einer Zeit, ich kann euch sagen, da war weder mit mir, noch mit ihr gut Kirschen essen. Ich war mitten in der Pubertät, sie in den Anfängen ihrer Wechseljahre: Halleluja!
Nicht nur, aber vor allem diese Umstände führten dazu, dass ein Zusammenleben nicht mehr möglich war und ich fortan in einem Kinderheim lebte. Dort hatte ich jedoch weiterhin regen Kontakt mit meiner Familie und war fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Während ich mit 14 oft „einsam“ und traurig war, weil ich eben in einem Kinderheim wohnte – was ja nicht zu verheimlichen war, vor Freunden oder gar in der Schule, bin ich heute dankbar um diese Zeit, um all die Menschen denen ich begegnen durfte und auch die Distanz, zwischen meiner Mutter und mir. Diese Distanz hat uns letztlich einen Raum geschenkt, einander zu „vermissen“ und „Wert zuschätzen„. Hätte es diesen Raum nicht gegeben, bezweifle ich stark, dass wir die Möglichkeit gehabt hätten uns so sehr zu brauchen, wie wir es bis zum Ende taten.
Außerdem war dieses Leben auch keine Endgültigkeit – ich sollte immer wieder zurück kommen dürfen – eben dann, wenn wir unsere Probleme überwunden haben.
Mit 15 Jahren – nach meiner Rückführung aus jenem Kinderheim – erlebte ich, wie mein Vater diese schwer kranke Frau für eine jüngere Partie verlassen hat – und uns Kinder gleich dazu.
Wieder ein Erlebnis, das Wellen schlägt.
Ich stand, frisch in mein eigentliches Zuhause integriert, vor der Entscheidung: ziehe ich nun zu meiner Mutter oder meinem Vater. Und natürlich war ich ein absolutes Mama-Kind. In meiner Familie war es auch wirklich schwer ein „Papa-Kind“ zu werden, denn einen wirklichen Bezug zum Vater hatten weder meine Schwester, noch ich.
Er war halt immer einfach dabei, ging ebenso wie die Mutter arbeiten und versorgte so unser Leben. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals von Herzen „lieb gehabt“ zu haben – was nebenbei bemerkt schon ziemlich traurig ist, aber leider der Wahrheit entspricht.
Jedenfalls war eine Entscheidung fällig zu der Frage, wo ich leben „wollte“. Doch von „wollen“ kann hierbei nicht die Rede sein. Ich hatte mit meiner Mutter geredet und sie sagte mir, sie würde mich immer mitnehmen, egal wohin. Jedoch wisse sie nicht, wie lange es ihr noch gut geht und ob es daher nicht sinniger wäre, ich würde zusammen mit meinem Vater, seiner Freundin und ihren Kindern „neu anfangen„. Ich glaube sie sah in der Tatsache, dass mein Vater eine neue Freundin hatte nicht nur den Umstand des Betrugs. Ich glaube fest daran, dass sie wirklich annahm, mir würde es in dieser Umgebung besser gehen.
Also war die Entscheidung getroffen.
Nicht von mir, sondern bestimmt durch die Umstände. Niemand konnte damit rechnen, dass diese neue Freundin einen Lattenschuss hat und mein Vater gleich mit, der zu dieser Zeit erstmalig wahre Züge eines Vaters zeigte. Die folgende Zeit sollte sehr heftig werden und mich für mein restliches Leben prägen und begleiten.
Ich verdanke dieser Zeit heute meine unnormal starke Verlustangst, die nur durch die menschlichen, seelischen und physischen Verfehlungen an mir zustande kamen. Vielen Dank an dieser Stelle an euch beide, echt! Ihr habt in drei Monaten das geschafft, was kein Kinderheim in 1 1/2 Jahren vollbringen konnte.
Mit 16 Jahren dann, zog ich aus in meine eigene Wohnung – oft erfasst als Trotz eines undankbaren Kindes, jedoch aus einer Situation heraus, die wieder einmal kaum jemand zu erfassen im Stande ist. Einerseits hatte ich meine schwerst kranke Mutter, die mich immer aufgenommen hätte und auch zu dieser Zeit Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, für mich da zu sein. Andererseits war da mein unfähiger Erzeuger und dessen Partnerin, die mich monatelang physischen und seelischen Misshandlungen und Verleumdungen aussetzen. Ich hätte aber auch nochmal in einem Heim leben können.
Welche Entscheidung hättest Du mit 16 getroffen?
Heute, ganze zehn Jahre später bin ich dankbar um all die Erfahrungen, die ich aufgrund dieser einen Entscheidung habe machen müssen – selbst wenn sie teilweise ziemlich scheiße waren. Sie haben aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin und auch den Menschen, der einige Zeit später die Kraft besaß, die ich brauchte um weiter „sein“ zu können.
Mit 21 dann: der Tag X. Meine Mutter stirbt am 16.02.2012 an den Folgen ihrer jahrelangen Krebserkrankung, letzen Endes, wenn auch in Frieden, sehr plötzlich von heute auf morgen.
Ich stehe zu dieser Zeit mitten im Leben, habe meine Partnerschaft, verdiene eigenes Geld und bezahle meine Rechnungen und Wünsche selbstständig, kümmere mich um mein eigenes Zuhause und vorher dazu noch um das meiner Mutter, ehe sie drei Monate vorher in ein Hospiz einzog. Meine Mutter war stolz auf mich – und ich war glücklich, irgendwie.
Dann BUMM, klingelt morgens um halb vier mein Telefon, am anderen Ende ein guter Freund, der meiner Mama bei ihrem letzten Gang beigestanden hat. Am Tag davor hatten wir uns noch verabredet, waren unterwegs, Fotos machen für einen neuen Ausweis und dergleichen. Ich hatte sie bei ihrer Lieblings-Kneipe abgesetzt und war nicht mit hinein gegangen, weil ich geschafft war – sie verstand das. Ich musste in zweiter Reihe parken und meine letzte Erinnerung an meine Mutter wird sein, wie sie mir zügig einen Kuss auf die Wange gab, meine Hand drückte und schnell ausstieg um über die Straße zu laufen. Mein Blick ruhte auf ihr – immer darauf bedacht ihr hinterher zu eilen, falls etwas passiert – fast so wie eine Mutter bei ihrem Kind, nur in meinem Fall eben umgekehrt. Das war’s.
Ich war 21 und schon so fest in das Leben integriert, wie wenige gleichaltrige. Ich habe Verantwortung getragen, für mich, meine Entscheidungen, aber gleichzeitig die Vollmacht über das Leben meiner Mutter gehabt – in jeglicher Hinsicht. Während ich mit 18 noch oft angepisst war, wenn „schon wieder“ das Handy klingelte und meine Mutter irgendwas „wollte“ oder brauchte, war mein Leben mit 21 in voller Gänze auf die Bedürfnisse meiner kranken Mutter eingestellt. Anders: ich habe mein eigenes Leben hinten angestellt. Wenn meine Freunde und Bekannten an sinnlosen Besäufnissen teilnahmen, war ich nüchtern mit einem Bein im Auto – nur für den Fall, meine Mutter würde nach mir „rufen“. Ich habe mit Sicherheit meine Verfehlungen, aber als ich am 16.02.2012 in diesem Hospiz-Zimmer stand und meine Mutter auf ihrem Bett liegen sah und sie anschließend wusch, anzog und für ihren letzten Gang herrichtete, war ich immer noch ein 21-jähriges Kind.
Wie schwer meine Entscheidungen auch gewesen sind – und wie falsch aus der Sicht unbeteiligter Dritter: ich habe meine Entscheidungen treffen müssen, ohne das ich jemanden gehabt hätte, der mir die „richtige“ Richtung zeigt. Zu einer Zeit, wo viele Kinder noch unbefangen und frei einfach leben dürfen und spielen, war ich Teil einer in voller Gänze an Krebs erkrankten Familie. Kurz: mit 13 musste ich von jetzt auf gleich aufhören ein Kind zu sein.
Aber ich habe das alles nicht aufgeschrieben, um mich zu rechtfertigen. Ich weiß und wusste immer, dass meine Mutter mich liebt. Ich weiß, dass sie stolz auf mich gewesen ist – und mit diesem Bild von mir sterben durfte. Ich weiß, dass sie immer an mich geglaubt hat, uneingeschränkt. Aber allem voran weiß ich, dass meine Mutter mir für jede meiner Entscheidungen dankbar war.
Denn am Ende zählt das, was bleibt – so ist der Kreislauf des Lebens. Und ich bin immer da gewesen, genauso wie meine Mutter für mich.
Ich möchte Danke sagen, für jede Minute, die wir miteinander teilen durften. Danke, für jede Unterhaltung – egal mit welchem Inhalt. Danke, für jeden Streit, jeden Fehler und jede gute Tat – denn das eine, zählt ohne das andere nichts.
Ich danke dir, dass Du versucht hast, jede einzelne deiner Verfehlungen an mir, wieder gut zu machen und ich hoffe sehr, dass mir das Gleiche andersrum gelungen ist.
Ich bin traurig über all die wichtigen Momente in unseren Leben, die Du nicht mehr erleben durftest – aber abermals dankbar, dass Du dich keine Minute länger hast quälen müssen.
Auch wenn mich kein Mensch auf dieser Erde verstehen möchte, kannst Du dir sicher sein: ich habe noch niemals aufgegeben und werde das auch nie, weil „einfach“ kann ja jeder.
Ich habe mir zudem ein Herz gefasst und einen erneuten Schritt auf meine Schwester gewagt und in Richtung der Enkelin, die Du leider niemals hast kennen lernen dürfen. Es war ein langer Prozess, denn Vergebung ist nicht einfach. Sie fordert viel – nicht zuletzt das Versprechen, Vergangenes vergangen sein zu lassen.
Ich weiß nicht, in welche Richtung uns das treiben wird, aber wir haben entschieden es einfach darauf ankommen zu lassen – nicht deinetwegen, sondern unseretwegen.
In den letzten fünf Jahren habe ich nie wieder so fröhlich lachen können und ich habe Anfang des Jahres entschieden, dass ich versuchen will, diese Fröhlichkeit wiederzufinden. Ich weiß heute, dass ich dir kein Unrecht tue, wenn ich lache – auch wenn mir viele Menschen genau diesen Vorwurf gemacht haben.
Ich vermisse Dich schrecklich – jeden Tag und vermutlich auch alle die noch folgen werden.
Auch fünf Jahre später ist die große Stelle, die Du hinterlassen hast ungefüllt – und ich habe akzeptiert, dass das auch immer so bleiben wird.
– Kira 🙂
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